von süss bis ungeniessbar

Kehrseite der Medaille

Meine Freundinnen und ich sassen gestern mit Ellie in Hamburg im Park. Gemütlich, unter Bäumen, bei Sonne und 26 Grad. Und wir sinnierten darüber, warum wir eigentlich wieder zurückfliegen. Wir machten uns auch Gedanken, was wir mit einem immens grossen Lottogewinn machen würden. Job hinschmeissen und einfach durch die Welt gondeln? Nur noch geniessen? Arbeiten? Irgendwie kamen wir auf keine klare Antwort. Und dann kam ER.

Er war südländischer Herkunft, hatte halblanges, schwarzes und sehr ungepflegtes Haar. Seine Hose hing so weit unten, dass die Sicht auf den halben Po frei war. Er schwankte beim Gehen und grummelte irgendwie unverständlichen Sätze vor sich hin. Mir lief es kalt den Rücken runter – keine Ahnung warum, denn ich bin eigentlich nicht sehr ängstlich. Aber er hatte einen Blick, der einen erschaudern liess. Er sprach auch sofort eine entgegenkommende Frau an, die ihm auswich und schnellen Ganges das Weite suchte. Schwankend ging er an unserer Sitzbank vorbei zum Abfalleimer und fing an, diesen zu druchwühlen. Er fischte alles raus, riss leere Verpackungen auf, roch daran und suchte ganz offensichtlich nach Essbarem. Ein altes Brötchen, welches ebenfalls zum Vorschein kam, wurde sofort angebissen. Ich musste mich wegdrehen, um nicht Brechreizattacken zu bekommen – und irgendwie war es sowohl beschämend als auch beängstigend.

Ich flüsterte meinen beiden Freundinnen, bloss keinen Blickkontakt aufzunehmen – und Ellie pfiff ich zu mir. Was, wenn er zu uns kommen würde. Er war echt gruselig. Er schwankte aber zur Sitzbank neben uns und redete dort auf eine junge Frau ein, die ihn offensichtlich abwimmeln konnte. Mir ging durch den Kopf, dass ich den Pfefferspray in der Wohnung hatte.

Wir haben kurz darauf den Park verlassen und ich habe mir überlegt, wie ironisch eine Situation sein kann. Ich meine: Wir haben darüber diskutiert, dass wir gerne noch eine Weile in Hamburg bleiben möchten – und was wir mit einem möglichen Lottogewinn alles anstellen würden. Und auf der anderen Seite hat sich jemand durch den Müll gewühlt, auf der Suche nach etwas Essbarem. Was lief da nur falsch? Was muss passieren, dass jemand so tief sinkt, dass er sich nur noch schwankend, ohne Stolz und Scham durch die Abfalleimer der Stadt wühlt. Haben da alle Netze versagt? Ist da nirgends eine Familie? Oder Freunde?

Ich kenne mich in Deutschland zu wenig aus, um beurteilen zu können, wie das Netz der öffentlichen Hand organisiert ist. Aber kann es sein, dass jemand ohne eigenes Verschulden auf der Strasse landet und Hunger haben muss – in einer Stadt wie Hamburg? Oder sind das Menschen, die sich bewusst für ein solches Leben entschieden haben, weil sie mit den Regeln der Gesellschaft nicht klar kommen?

Nun ja – ich mache mir auf jeden Fall gerade keine Gedanken über einen möglichen Lottogewinn – eher, wie so etwas mit einem Menschen passieren kann…

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23 Kommentare

  1. Angea Aeschbacher

    Ich bin vorsichtig mit Aussagen wie „niemand muss“. So schnell ist man durchs Raster gefallen, keine Arbeit keine Wohnung, keine Familie oder Freunde keine moralische Unterstützung, keine Würde mehr, alkoholkrank. Wer weiss schon was diesen Menschen zerbrochen hat. In unserer Leistungsgesellschaft gehen die Sensiblen zuerst zu Grunde wenn sie ihren Platz nicht finden oder verlieren.

    • modepraline

      Bin zum Teil mit Dir einig, aber eben nur zum Teil. Finger aus dem Arsch und Blick nach vorne…irgendwie kann sich doch jeder ein klein bisschen selber helfen…

      • senftopfherausgeber

        Dazu hatte ich mal eine Reportage gesehen:
        Wenn es passiert, dass man aufgrund der Arbeitslosigkeit keine neue, kleinere Wohnung findet (nicht jeder Vermieter ist scharf auf ALG-Bezieher) und dadurch wohnsitzlos wird, dann bekommt man kein ALG.
        Ohne ALG…usw. usw.
        Teufelskreis.

        Es gibt schon Möglichkeiten, dass es nicht so weit kommen muss, aber oftmals liegen bei Betroffenen psychische und mentale Barrieren dazwischen. Nicht jeder erträgt es, fremde Hilfe anzunehmen.
        Dadurch kann man von ganz oben ziemlich schnell nach ganz unten durchgereicht werden.

      • modepraline

        Klingt nicht toll…

      • senftopfherausgeber

        Nee, ist es auch nicht.
        Ich möchte nicht so enden.

  2. Plietsche Jung

    Niemand muss in Deutschland hungern oder im Park schlafen. Niemand.

    Es sei denn, man ist illegal hier. Aber solange Geld für Drogen oder Sprit da ist, hab ich null Mitleid.

    • modepraline

      Das ist es, was ich hören wollte: Müssen muss in Deutschland auch niemand, oder!? Bei uns in der Schweiz ist das soziale Netz drum so, dass man mindestens einen Schlafplatz und etwas zu Essen bekommt, wenn man durch alle Raster gefallen ist. Dann ist das in Deutschland also auch so?

      • Plietsche Jung

        Natürlich, aber nur, wenn man will und auch identifizierbar ist.

  3. kat+susann

    Grossstadt.. ganz normal… es gibt die Alten die Flaschen sammeln umd im Müll wühlen die eine Microrente haben.. Drogenabhängige, Geflüchtete, Obdachlose und die sog. Berber die auf der Strasse leben und nicht anders können und wollen… Junge und Alte und welche die hier einfach in der Grossstadt gestrandet sind.
    Es gibt aber auch die Bahnhofsmission die die Menschen bis spät in der Nacht versorgt.. es gibt einen Bus der nachts rumfährt und Essen und Kleidung bringt..
    Um auf der Strasse zu landen braucht es nicht viel… gerade heute hatte ich einen Patienten in der Notaufnahme.. 5.2.Promille und konnte noch gehen ! Lebt auf der Strasse.. Job weg, Frau weg, Schulden.. Wohnung weg.. Strasse.
    nächtlichen Gruss S.

    • modepraline

      Wow, ich bin platt! 5,2 Promille und konnte noch gehen … jeder andere wäre tot! Du erlebst wohl einiges, hmmmm??

      • senftopfherausgeber

        Das wird ein „Pegel-Alkoholiker“ gewesen sein, der ohne eine einzige Promille nicht mehr geradeaus käme und nur noch am Zittern wäre, aber ab einem gewissen Wert wie ein Uhrwerk läuft.

        Irgendwann ist aber die Leber derartig geschädigt, dass grob gesagt selbst ein Schluck Alsterwasser betrunken machen könnte, weil der Rest an Lebergewebe den Alkoholabbau nicht mehr ausreichend bewerkstelligen kann.
        So weit sollte es aber besser nicht kommen!

      • modepraline

        Der Doktor spricht!

      • senftopfherausgeber

        Wie immer.
        Und nun singen wir alle zusammen das AMEN!
        Ahaaaaamäääääään.

        🙂

      • modepraline

        …summmm….

      • senftopfherausgeber

        🙂

  4. Isabelle Dupuis

    Hmm, das ist tatsächlich eine gute Frage, ich weiß es auch nicht … vielleicht psychische Probleme und niemand, der einen unterstützt? Keine Familie, keine Freunde? Mich macht sowas immer traurig, wenn ich das sehe, und dann kriege ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich trotzdem auch grusel.

  5. alleinsein1974

    wenn es niemanden gibt für den es sich lohnt kann es oft hart sein, sich durchzubeissen…denke ich

  6. schnipseltippse

    Vlt ein Sanspapier…? Von welchem Netz werden diese Menschen aufgefangen? Haben wir hier doch auch.

    • modepraline

      Haben wir? Noch nie gesehen … und: Er war voll auf Drogen! Also dafür musste das Geld wohl gereicht haben…

      • schnipseltippse

        Noch nie gesehen? Ernsthaft? Dann fahr mal nach Biel mit dem Zug. Da hast du ausreichend Beispiele. Aber schön hinter dem Bahnhof. Von dem Vorplatz wurden sie nämlich verbannt.
        In Lausanne gibt es auch genügend Beispiele. Ist leider so.

      • modepraline

        Ich bin nie in Biel – ich finde diese Stadt so überhaupt nicht schön und für meinen Geschmack hat es da etwas viel „Pack“, was rumhängt…

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