von süss bis ungeniessbar

Wortschatzerweiterung

Über ein Jahr sind wir schon gefangen im Auge des Hurricans – wow, klingt wie ein Vorspann eines dramatischen Films aus Hollywood. De facto ist es aber so, dass uns seit über einem Jahr ein fieses Virus mit all seinen Mutanten in Atem hält (oder eben den Atem nimmt).

Ich gehöre nicht zu jenen, die dieser Tatsache viel Positives abgewinnen kann. Ich gehöre aber auch nicht zu der Gruppe, die sich tagtäglich deswegen mokiert – es nützt nämlich schlicht und ergreifend nichts. Es ist, wie es ist. Bescheiden! Und das einzige, was wir dagegen tun können, ist uns vernünftig und schlau zu verhalten. Viel mehr können wir dem cleveren kleinen Kerl mit all seinen Kollegen nicht entgegenhalten. Leider gehören „vernünftig“ und „schlau“ bei vielen Mitmenschen nicht zu den Kernkompetenzen ihres Lebens. Drum sind wir nun da, wo wir eben jetzt sind: Ganz schön in der Schei …. !

Was ich an mir beobachte (ja, ich beobachte mich selber … cool oder?) ist, dass sich mein Wortschatz in diesem Jahr sehr verändert und auch erweitert hat. Während ich noch vor einem Jahr beim Wort „vulnerabel“ fragend aus der Wäsche geguckt habe, gehört das Wort inzwischen zum Alltag. Davon gibt es noch eine Menge mehr, oder habt ihr früher Wörter wie:

Inzidenz
R-Wert
Vektor
RNA-Impfstoff
Lockdown
Shutdown
Social Distancing
Triage
Aerosole
evidenzbasiert
exponentiell
Reproduktionszahl
Homeoffice
Homeschooling
Hotspot
Mortalität
Mutant
PCR-Test
Quarantäne
Superspreader
Tracing
Vakzine
Webinar
Flatten the curve
FFP
Long Covid
systemrelevant

in euren Gesprächen in irgend einer Form verwendet? Klar, die Mediziner und Wissenschaftler unter euch haben diese Wörter bestimmt schon vorher gekannt und verwendet. Für mich waren einige davon neu und ich musste mich erst an sie gewöhnen. Und es ist erstaunlich, wie ich sie alle heute in meinen Gesprächsalltag einbaue, ohne es noch zu merken. Das beweist doch einmal mehr, dass auch eine 2-fache Oma noch eine Menge lernen kann. Das ist aber auch so ziemlich einzige, was ich diesem Jahr an Positivem abgewinnen kann – die Wortschatzerweiterung.

Nein, das ist noch was: Man wird nicht mehr bei jeder Begrüssung von Kreti und Pleti abgeküsst!!! Das finde ich wunderbar und das werde ich auch nie wieder einführen in meinem Leben. Never ever!! Wie oft habe ich mich früher darüber geärgert, wenn entfernte Bekannte meinten, bei der Begrüssung drei Küsschen verteilen zu müssen, um anschliessend auszuführen, dass sie die letzten 3 Tage mit Magen-Darm-Grippe im Bett verbracht haben. DANKE AUCH!! Ein bisschen mehr Abstand darf für mich absolut normaler Alltag bleiben. Ausser bei meinen Liebsten. Dort muss er nicht sein. Aber das Pfotenschütteln (inzwischen finde ich das richtig gruselig) und das „Geknutsche“ darf bei den Undingen bleiben, welche diese Pandemie mit sich gebracht hat.

Fazit: Ich bin schlauer geworden, habe verdammt viel gelernt und hätte so langsam genug von dem ganzen Mist. Aber eben: Solange „schlau“ und „vernünftig“ nicht in jedem Kopf angekommen sind, werden wir weiter rudern müssen … mit einem Paddel … und Wellengang … und einem Leck im Schiff …

Das Leben ist kein Wunschkonzert

Wer bis dato nicht gelernt hat, dass das Leben manchmal verdammt hart sein kann, der hat es spätestens mit der Pandemie lernen müssen. Es gibt Dinge, die können wir einfach nicht kontrollieren. Da stehen wir gleichsam machtlos wie auch ratlos einer Tatsache gegenüber, die uns schier verzweifeln lässt. Da gibt es nichts, was wir akut tun können, um es besser zu machen oder es einfach zu verändern. Nichts!

Der Mensch in der fortschrittlich entwickelten Welt ist es gewohnt, dass er alles so lange verändern kann, bis es ihm gefällt oder zumindest nahe an sein Ziel heran kommt. Und nun? Nun stehen wir da – mitten in einem Leben, das wir uns noch vor einem Jahr nicht haben vorstellen können. Und wir können im Dreieck springen, schreien, toben, heulen … es ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir machtlos sind. Die kleinen fiesen Virenviecher lehren uns das Leben „back to the roots“! Was das mit uns anstellt und noch anstellen wird, darüber kann man nur mutmassen. Dass es aber tiefe Spuren hinterlässt, das sieht und spürt man jetzt schon.

Unser persönliches Leben auf dem Onkoplaneten hat uns vor Jahren schon gelehrt, dass es Dinge gibt, die wir einfach nicht ändern können. Und das Verzichten auf viele lieb gewonnene Gewohnheiten hat damals von Tag eins an dazu gehört. Ich dachte deshalb, dass mir das Leben unter Pandemieregeln nicht mehr viel ausmachen würde. Falsch gedacht. Es hängt mir so langsam aber sicher richtig zum Hals raus! Und ich merke, wie meine Träume und Wunschgedanken immer kleiner und überschaubarer werden. Inzwischen bin ich in meinem Kopf bei einem recht bescheidenen Wunsch angekommen:

Ich wünsche mir, dass ich im Sommer geimpft in einem Strassencafé sitzen und den Menschen beim Leben zuschauen kann. Ja, das wäre wunderbar!

Schon krass, wie sich die Prioritäten im Leben verschieben und wie Dinge, die man vorher als wichtig erachtet hat, auf einmal nichtig und klein werden. Dass Gesundheit unser wichtigstes Gut ist, das habe ich immer verstanden. Inzwischen sollte das auch bei allen Menschen angekommen sein. Und ich weiss inzwischen auch, dass es gut ist nicht zu wissen, was noch alles auf uns zukommt …

Ich hoffe dann mal auf den Sommer!

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